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Ein Interview mit Ajsche Al-Molla über Sichten und Perspektiven geflüchteter Frauen in Deutschland

(M)eine Rolle als Frau spielen 

„Über Deutschland wird gesagt: Das ist das Land der Frauen. Das macht vielen Männern ein bisschen Angst.“

Geflüchtete Frauen in Deutschland sind ja so…! Viele vorgefertigte Bilder schweben durch Medien, Diskurse und unsere Köpfe. Wie geflüchtete Frauen wirklich sind, weiß Ajsche Al-Molla. Denn sie arbeitet für den VNB e.V. in der „Koordinierungsstelle frau + wirtschaft“ im Landkreis Nienburg mit ihnen und für sie.

Im Rahmen des Projektes „Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden“ fragten wir Ajsche: Welche Fragen, Wünsche und Ziele haben die Frauen in Deutschland? Was halten sie von der Gleichstellung der Geschlechter? Wie werden sie (nicht) gesehen und wie möchten sie gesehen werden?

Rollenspielen Interview – (M)eine Rolle als Frau spielen [PDF]
Rollenspielen – Interview – (M)eine Rolle als Frau spielen ARABISCH [PDF]

 

Beschreibe bitte deine Arbeit in der Koordinierungsstelle.  

Ich bin dort für die Förderung der Migrantinnen zuständig. Ich konzipiere und gestalte Programmangebote für Frauen, die arbeiten möchten. Mit den Seminaren möchte ich die Frauen motivieren und ihnen beim Auf- und Ausbau ihrer Qualifikationen helfen.

Darüber hinaus informiere und berate ich die Frauen. Ich schreibe mit ihnen Bewerbungen und Lebensläufe. Wir suchen zusammen nach einem Ausbildungsplatz oder Job.

 

Was macht dir besonders große Freude an deiner Arbeit?

Das ist so vieles. Am meisten macht es mir Spaß, sie zu motivieren. Zu sehen, dass sie so motiviert sind. Und wenn die Frauen dann am Ende was geschafft haben, das ist für mich die größte Freude!

 

Warum muss es deine Arbeit geben?

Viele Frauen mit Flucht/-Migrationserfahrung kennen sich, vor allem am Anfang, noch nicht so gut aus im deutschen Arbeitsmarktsystem. Da brauchen sie jemanden, der ihnen zur Seite steht. Ansprechpartner_innen, die Unterstützung bieten bei der Frage, wie man hier an Arbeit kommen kann.

 

Was brauchen die Frauen, mit denen du arbeitest, für echte und nachhaltige Teilhabe an der Gesellschaft?

Die Akzeptanz von der Gesellschaft ist vielen Frauen sehr wichtig. Sie wünschen sich, dass man ihnen das Gefühl gibt, hier willkommen zu sein. Viele Frauen fühlen sich durch die ganze negative Berichterstattung über Geflüchtete sehr verunsichert.

Arbeit ist ein großer Schritt in Richtung echter Teilhabe. Das Gefühl zu haben, dass man etwas für die Gesellschaft tut. Ein Teil der Gesellschaft zu werden, ist oft der Wunsch.

Ich werde öfter von den Frauen gefragt: „Mögen die uns hier überhaupt?“. „Will man uns hier überhaupt haben?“. „Können wir mit einem Kopftuch arbeiten?“. Das sind dann die ersten Fragen, die zur Arbeit hinführen können. Zu der Frage, ob sie überhaupt eine Chance haben, wenn sie sich bewerben für einen Job.

 

Stellen die Frauen dir Fragen, die sie in einem Amt oder in einer Behörde vielleicht nicht stellen würden?

Wenn ein Vertrauensverhältnis da ist, trauen sie sich, solche Fragen zu stellen. Manche Fragen stellen die Frauen nicht, weil sie Angst haben, ihr Gegenüber damit möglicherweise zu verletzen.

Mich fragen sie schon eher viel, weil ich beispielsweise ja auch schon die Erfahrung gemacht habe, mit dem Kopftuch zu arbeiten. Sie sehen mich als eine „von ihnen“.

 

Was machen insbesondere die Fluchterfahrungen mit den Frauen?

Der Zusammenhalt in der Familie wird stärker. Aber auch sie selbst werden stärker. Viele Frauen sagen sich: „Ich habe eine Flucht überstanden, ich habe viel erlebt und geschafft. Dann schaffe ich es auch hier in Deutschland, glücklich zu werden.“

Einige Frauen zerbrechen an der Flucht. Sind traumatisiert, ausgelaugt, kriegen nichts mehr auf die Reihe.

Und dann gibt es sehr viele Frauen, die machen in Deutschland einfach ganz normal weiter. Sie gehen hier zur Schule, lernen die Sprache und wollen studieren.

 

Ändern sich in Deutschland die Rollenvorstellungen der Frauen?

Darüber haben wir letztens im Unterricht gesprochen. Viele der Frauen fühlen sich hier etwas stärker als in ihren Herkunftsregionen. Sie fühlen sich motivierter, etwas zu tun, weil es hier eben auch die Möglichkeiten dazu gibt. Über Deutschland wird gesagt: Das ist das Land der Frauen. Das macht vielen Männern ein bisschen Angst.

 

Entstehen dann auch innerfamiliäre Rollendynamiken?

Viele Frauen haben das Gefühl, sie tragen hier nun mehr Verantwortung. Den Kindern gegenüber fühlen sich die Frauen noch stärker verantwortlich, weil sie Angst haben, hier ihre eigene Religion, Kultur und Sprache zu vernachlässigen. Die Kinder sprechen zuhause teilweise Deutsch. Das verstehen die Eltern manchmal nicht. Die Frauen müssen dafür Sorge tragen, dass die Herkunftssprache gewahrt bleibt. Aber sie freuen sich auch, wenn ihre Kinder ihnen ein bisschen Deutsch beibringen.

Für ein einigermaßen gutes Leben in Deutschland wollen und müssen viele geflüchtete Frauen mit anpacken. Am Monatsende merken sie, das Gehalt des Mannes reicht manchmal nicht für die ganze Familie.

 

Was denken die Frauen, mit denen du zu tun hast, über Deutschland?

Man hört so viel Verschiedenes. Sie denken über Deutschland, dass es ein freies Land ist. Man kann tun und lassen, was man möchte. Und dass sie sich auch so ein bisschen auflehnen können bzw. auflehnen könnten, wenn sie wollten. Sie spaßen auch damit im Unterricht. „Hier ist das Land der Frauen. Ich darf hier das und das“. Das meinen sie aber nicht so richtig ernst. Denn da muss der Mann natürlich auch mitspielen.

Ihre Vorstellung von Freiheit hier ist anders als unsere. Für sie kann das heißen, der Mann hilft ihnen ein bisschen im Haushalt, weil das die deutschen Männer auch tun. Und dass die Männer sich wie die deutschen Männer mehr um die Kinder kümmern.

 

Was denken die geflüchteten Frauen über die Frauen, die schon lange oder schon immer hier sind?

Einige denken, dass viele Frauen hier auf eine negative Art und Weise emanzipiert sind. Dadurch, dass sie ihre Religion, ihre Kultur und ihre Herkunftssprache ein bisschen vernachlässigen.

Wenn sie dann merken, dass ich die Arabische Sprache noch kann und aus dem Koran zitiere, dann sind sie erschrocken und fasziniert zugleich.

 

Geflüchtete Frauen stoßen in Deutschland am Anfang sicherlich auf viele neue Herausforderungen. Welche fallen dir ein? 

Viele haben fluchtartig ihre Heimat verlassen. Die Familie ist nicht mehr zusammen, die Papiere und Qualifikationsnachweise konnten nicht so schnell mitgenommen werden. Das sind nun die großen Herausforderungen in Deutschland.

Herausfordernd ist für viele der Frauen der ganze „Papierkrams“. Wieso so viele Fragen, so viele Details, so viele Briefe?!

Einige wünschen sich mehr Flexibilität von den Deutschen. Zum Beispiel, wenn sie einem Mann nicht die Hand geben wollen.

 

Was erzählen die Frauen von ihren Männern?

Sie sagen zu mir: „Mein Mann hilft mir nicht. Hier in Deutschland ist es doch so, dass der Mann der Frau helfen muss. Sag ihm doch mal was!“. Da ist aber auch immer eine Portion Spaß mit dabei. Sie haben dieses typische Bild von dem deutschen Mann, der arbeitet, aber trotzdem seiner Frau zuhause hilft.

Teilweise wissen sie aber auch, dass das Idealvorstellungen sind und dass das nicht immer so ist. Genauso wie es in den Herkunftsgebieten auch nicht immer so ist, dass der Mann nie im Haushalt hilft. Man kann das nicht pauschalisieren.

 

In den Medien werden geflüchtete Frauen, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen, oft als „per se unterdrückt“ dargestellt. Wie gehen die Frauen damit um?

Einige geflüchtete Frauen werden als unterdrückt angesehen; dabei sind sie die Chefinnen zuhause. Nur möchten sie nicht, dass das nach außen so rüberkommt. Sie wollen, dass der Mann als stark angesehen wird.

 

Ein „starker“ Mann sein: Das kann belastend sein, gewiss auch für den Mann. Und dann treffen Männer bestimmt auch viele falsche Entscheidungen, so wie ich. Warum nicht als Paar gemeinsam alle Entscheidungen treffen?

Im Islam wird uns Frauen nahegelegt, die Beraterinnen der Männer zu sein. Mein Mann trifft die Entscheidungen, aber eigentlich treffen wir sie zusammen. Wir sind ein Team; auch wenn am Ende er entscheidet. Die klare, die ausformulierte Entscheidung kommt meistens vom Mann. Ich bin froh, dass mein Mann die Hauptentscheidungen trifft.

 

In Deutschland ist die Frau längst noch nicht gleichgestellt. Gender Pay Gap und Altersarmut sind nur zwei Stichworte struktureller Benachteiligungen von Frauen. So sind Frauen, die in Partnerschaften mit Männern leben, stärker auf den lebenslangen Zusammenhalt des Bündnisses angewiesen. Männer werden strukturell klar bevorteilt. Vor allem materiell. Was sagst du dazu?

Die unterschiedliche Bezahlung für vergleichbare Tätigkeiten zwischen Mann und Frau ist nicht gerechtfertigt aus meiner Sicht.

Frauen, die aus islamisch geprägten Ländern geflohen sind, sind nicht so fixiert auf Materielles. Ihre Vorstellungen vom Leben sind ganz anders. Sie vertrauen auf Gott. Denn Gott sagt, dass er für die Gläubigen die Versorgung schon geschrieben hat. Wenn du darauf vertraust, wird für dich gesorgt.

 

Viele Geflüchtete müssen in Deutschland vereinzelt leben, als Kleinfamilie. Die Großfamilie wurde zerrissen; die neuen Nachbarn kennt man noch nicht gut. Welches Netz fängt sie in Problemsituationen auf?

Ein anderes Netz fängt sie auf. Wir haben ja unsere islamische Gemeinschaft. Wir werden angehalten, uns gegenseitig emotional und auch finanziell zu unterstützen.

Letztens ist eine palästinensische Frau, die hier niemanden hat, ins Krankenhaus gekommen. Da sind meine Schülerinnen frühzeitig aus dem Unterricht gegangen und haben sie besucht. Unsere islamische Gemeinschaft ist wie ein Körper. Wenn ein Körperteil leidet, leidet der ganze Körper.

 

Kommen wir nun zu den Männern. Wie kann man sie mit Bildungsangeboten erreichen? Wie nicht?

Männer, die sowieso gewillt sind über Geschlechterthematiken zu reden, erreicht man. Mit meiner Arbeit möchte ich aber auch Männer erreichen, die nicht so aufgeschlossen sind.

Man könnte versuchen, die Männer über die Frauen zu erreichen.

 

Wie geht es dir nun als Frau, wenn du mit Männern arbeitest?

Ich kann nicht so offen sein, wie ich es mit Frauen bin. Aber das ist nicht schlimm. Es ist nun mal so, dass man Männern nicht alles erzählt. Über einige Themen möchte ich nicht mit Männern sprechen.

Wenn Männer bei meiner Arbeit sind, muss ich mein Kopftuch tragen. Wenn nur Frauen im Büro sind, lege ich mein Kopftuch oft ab. Das ist richtig angenehm.

 

Wie gefällt dir das Projekt Rollenspielen?

Ich finde es sehr gut! Die Art und Weise, wie mit den Männern über Rollenthemen gesprochen wurde, habe ich bisher so noch nicht gesehen. Es wurde auf die Männer zugegangen und zum Thema Geschlechterrollen ist man über ganz normale Alltagsfragen gekommen.

Das Gute ist, es wurden keine Gegensätze aufgebaut und keine Vorwürfe gemacht. Es ging um ihr eigenes Leben und ihre konkreten Erfahrungen. Das regt die Männer dann viel effektiver zum Nachdenken an. Dann machen sie sich auch zuhause noch Gedanken über die Fragen, die während der Veranstaltung aufkamen. Wie möchte ich mein Leben führen? Mache ich alles richtig? Was muss ich vielleicht ändern?

Und diese Fragen stellen die Männer sich dann selbst. Und das ist sehr wichtig, denn sich selbst beantwortet man ja Fragen ehrlicher als zum Beispiel gegenüber einem Lehrer.

 

Braucht es so ein Angebot, also Diskussionsrunden zu Geschlechterrollen, auch für geflüchtete Frauen?

Viele Frauen sind da schon weiter und reflektieren das mehr. Als Benachteiligte denken sie mehr darüber nach.

Sensibilisiert für Rollenbilder sind viele der Frauen. Nur wissen sie oft nicht, wie sie aus einer starren Rolle rauskommen können. Wie können die Frauen belastende Rollenaufteilungen zuhause aufbrechen, ohne dass die Ehe aufs Spiel gesetzt wird? Dafür brauchen sie Impulse und Methoden.

 

Ein Workshopangebot für geflüchtete Frauen zum Thema „Geschlechterrollen in Deutschland“: Ist es besser, wenn eine Frau mit eigener Flucht-/Migrationserfahrung die Moderation übernimmt?

Eine Migrationsgeschichte ist nicht so wichtig. Wichtiger ist, dass diese Frau auch dieselben Werte vertritt wie die Gruppe. Sympathie ist wichtig. Und das Gefühl, nicht in eine Richtung gezerrt zu werden.

Eine Moderatorin sollte wirkliches Interesse an unseren Bildern, an unseren Rollenvorstellungen haben; Denkanstöße geben und eine offene Haltung ausstrahlen.

 

Was ist deine Vision einer gelingenden Zukunftsgesellschaft?

Jede*r kann ihre/seine Identität und Individualität wahren und trotzdem zur Gemeinschaft gehören.

 

Dieses Interview wurde im Rahmen des Projektes „Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden“ geführt. Ein Projekt der Bildungs- und Beratungsstelle „G mit Niedersachsen“ (VNB e.V.). Gefördert durch „Niedersächsische Lotto-Sport-Stiftung“ und „Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung“.

 

Interview: Manfred Brink | Photo: © VNB e.V.

Fragen und Kontakt: Manfred Brink (G mit Niedersachsen, VNB e.V.) |  [email protected]

 

 

Mehr zum Projekt Rollenspielen:

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Weitere Interviews:

www.g-mit-niedersachsen.de/rollenspielen/interviews/

 

Weiterführende Links:

www.g-mit-niedersachsen.de

www.frau-und-wirtschaft-ni.de

www.vnb.de

 

 

 

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